Im Gegensatz zu Godot wird der Winter 2022/23 kommen. Wir wissen nicht, wie dieser Winter ausfallen wird. Sicher ist nur: Je härter, kälter und länger er daherkommt, desto schwieriger wird sich die Lage vieler Menschen in Deutschland gestalten. Die derzeit aufgerufenen Strom- und Gaspreise stellen selbst für Leute mit mittlerem Einkommen eine Herausforderung dar. Für all jene, die im allgemeinen Sprachgebrauch irrtümlicherweise als die sozial Schwachen betitelt werden, sind sie existenzgefährdend. Gleiches gilt für kleine und mittlere Betriebe, die mangels hinreichender Systemrelevanz kaum im Fokus politischer Rettungsbemühungen stehen. Wir werden in diesem Sektor vermutlich etliche Pleiten erleben. Der Mittelstand wird in Krisen einzig durch den Markt reguliert, während große Unternehmen mit wichtigen Aktionärspersönlichkeiten im Hintergrund mit Steuergeldern bzw. (Gas)umlagen gerettet werden. Angeblich waren die staatlichen Eingriffe zugunsten Unipers & Co alternativlos. Wir kennen derartige Statements von der Bankenkrise 2008/09 zur Genüge. Persönlich würden wir durchaus bislang unmögliche andere Optionen in Erwägung ziehen. Wir halten es nämlich nicht für undenkbar, dass das Privatisieren von Gewinnen und die Sozialisierung von Verlusten ein Ende haben muss, wenn wir den sozialen Frieden in Deutschland erhalten wollen.
Strom mal zwei, Gas mal sieben
Gas kostete vor der Verknappung etwa 6, Strom um die 30 Cent/kWh. Wer heute gezwungen ist, einen neuen Liefervertrag für Strom abzuschließen, zahlt, Stand 07.09.2022, 66 Cent/kWh. Gaskunden wären froh, hätten sie es lediglich mit einer Verdopplung der Preise zu tun. Bei Neuverträgen wird in etwa der siebenfache Preis fällig.
Bei Kunden, die längerfristige Verträge abgeschlossen haben, sind ebenfalls erhebliche Preiserhöhungen zu verzeichnen – bei Strom ca. 30%, bei Gas nur eine Verdreifachung. Letztere spiegelt im Wesentlichen die Entwicklung des Börsenpreises für Erdgas wider, rechtfertigt jedoch nicht die spekulativen Mondpreise für Neuverträge.
Beim Strom hingegen wurden die Börsenpreise, seit Anfang 2021, im Monatsmittel betrachtet um den Faktor 7 gestiegen, (noch) nicht komplett an den Verbraucher weiter gegeben. Hier ist „noch Fantasie drin“, würden Börsianer sagen. Wir begnügen uns damit, auf diesen Fakt hinzuweisen, der die Gefahr weiterer enormer Strompreiserhöhungen in sich birgt.
Merit Order, Strompreise und Zufallsgewinne
Merit Order ist ein Modell, das die Einsatzreihenfolge der Kraftwerke nach marktwirtschaftlichen Kriterien bestimmt. Volkstümlich ausgedrückt kommen die Erzeuger, die am billigsten Strom produzieren (heutzutage sind das die Erneuerbaren) zuerst zum Einsatz, danach die Kraftwerke aufsteigend nach ihren Grenzkosten. Aufgrund der explodierenden Gaspreise rangieren Gaskraftwerke aktuell am Ende der Kette. So weit so gut … hätten wir nicht, selbst in der jetzigen Krisensituation, etliche stehende Windräder längs der Autobahnen gesehen. Unsere Kritik, dass dieser Aspekt von Merit Order nicht mal jetzt konsequent umgesetzt wird, weil sich aufgrund langfristiger Lieferverträge zu viel fossiler Strom im Netz befindet, erfährt damit eine deutlich höhere Brisanz. „Ausfallarbeit“ durch das Abregeln von Erneuerbaren zu generieren und den Ausfall zu bezahlen, war noch nie eine gute Idee. Aktuell ist diese, letztendlich wieder nur vom allmächtigen Markt initiierte Herangehensweise, absolut nicht hinnehmbar.
Das sieht dieser Windmüller genauso, obwohl er sich rein monetär in einer sehr viel komfortableren Lage befinden dürfte als vor einem Jahr. Den Kommentar Wolfgang Kienes, Geschäftsführer der Maka Windkraft, vom 17.09.2022 sollten Sie unbedingt lesen. Es gibt Menschen, die nicht länger gewillt sind, den allgemein üblichen Tanz ums Goldene Kalb zu vollführen, die stattdessen weiter denken. Chapeau für Ihren Beitrag, Herr Kiene!
Der zweite Aspekt von Merit Order, dass alle Erzeuger die gleichen Vergütungen erhalten wie das teuerste zur Bedarfsdeckung notwendige Kraftwerk, funktioniert im Gegensatz zur Kraftwerkspriorisierung offensichtlich besser als unseren Politikern lieb ist. Letztendlich folgt dieses Prinzip aber nur der reinen Lehre des „freien Marktes“, sprich einem Dogma, dessen Schädlichkeit um so mehr zum Tragen kommt, je mehr wir weiterhin daran glauben.
Weil die gerade kostendeckend bzw. mit minimalen Gewinnen arbeitenden Gaskraftwerke die Preise vorgeben und diese aufgrund massiven Strommangels vor allem in Frankreich nicht vom Netz genommen werden können, generieren alle anderen Erzeuger (an das EEG gebundene Erneuerbare ausgenommen, was im Übrigen gerne verschwiegen wird) extrem hohe Gewinne. Da unserer Finanzminister das Wort „Übergewinne“ noch dazu im Zusammenhang mit „Steuern“ strikt ablehnt, haben die Politik-Strategen den neuen Begriff „Zufallsgewinne“ erfunden. Dieser Begriff verschleiert die Tatsache, dass diese – sagen wir der Ehrlichkeit halber doch lieber wieder Übergewinne oder nochbesser Extraprofite – das Ergebnis betriebswirtschaftlichen Handelns unter Ausnutzung der gegebenen Rahmenbedingungen sind. Sie entstehen schlicht durch das Merit-Order-Prinzip, das in der gegenwärtigen Situation die Strompreise für die Verbraucher in ungeahnte Höhen treibt.
Unsere Regierung hat immerhin beschlossen, diese „Zufallsgewinne“ abzuschöpfen, was prinzipiell eine gute Idee ist, wenn die so generierten Einnahmen denen zugute kämen, die am meisten unter den hohen Strompreisen leiden. Allerdings sollten uns Habeck und Lindner langsam erklären, wie das Eintreiben der „Zufallsgewinne“ genau vonstatten gehen soll. So ein politischer Eingriff in den allmächtigen Markt wird von dessen Evangelisten schließlich nicht unwidersprochen hingenommen. Den diesbezüglich anstehenden politischen Entscheidungen sehen wahrscheinlich nicht nur wir voller Spannung entgegen.
Diese Entscheidungen gehören ebenfalls zu den Rahmenbedingungen ökonomischen Handelns. Unter der sich abzeichnenden gesellschaftsgefährdenden Krise kann und muss der Gesetzgeber bestimmte Marktmechanismen (hier: alle kriegen den Höchstpreis) außer Kraft setzen. Sofort sinkende Strompreise wären die Folge und würden Entlastungspakete, die letztendlich nur vom Steuerzahler finanziert werden, überflüssig machen.
Das dritte Entlastungspaket
Unabhängig von unserer allgemeinen Bewertung dieses Entwurfs, der letztendlich dazu dient, den sozialen Frieden in Deutschland über den nächsten Winter zu retten, bleiben wir zunächst bei der Frage der „Zufallsgewinne“. Zitat:
„Durch die teilweise Abschöpfung von Zufallsgewinnen entstehen finanzielle Spielräume, die gezielt für die Entlastung der Verbraucherinnen und Verbraucher in Europa genutzt werden sollen.“
Da schwingt mehr Hoffnung als Gewissheit in die Umsetzbarkeit mit. Und die EU als brauchbare Schuldige für eventuelles Scheitern wird vorsichtshalber gleich präsentiert:
„Die Bundesregierung wird sich in der Europäischen Union mit Nachdruck dafür einsetzen, dass es schnell zu Verabredungen kommt.“
Das Entlastungspaket enthält einige potenziell sinnvolle Ansätze, die sich wohltuend von dem bisherigen Murks a la Tankrabatt und Gasumlage abheben:
„Nach Einführung der Erlösobergrenze wird aus deren Einnahmen eine Strompreisbremse für den Basisverbrauch eingeführt. Den Privathaushalten kann so eine gewisse Menge Strom zu einem vergünstigten Preis gutgeschrieben werden (Basisverbrauch). Die Haushalte werden so finanziell spürbar entlastet und gleichzeitig bleibt ein Anreiz zum Energiesparen erhalten.“
Das wäre in der Tat verantwortungsvolle Sozial- und ökonomisch sinnvolle Energiepolitik; wäre deshalb, weil als Voraussetzung wieder die „Einführung der Erlösobergrenze“ (= Abschöpfung der Übergewinne) genannt wird. Da man nicht weiß, inwieweit das funktionieren wird, hält man sich bewusst mit Zahlen zurück. Eine „gewisse Menge Strom für Privathaushalte“ sind genau wie viele Kilowattstunden pro Kopf und Jahr?
Auch hier wird das Fell des Bären verteilt, bevor er erlegt ist:
„Um die angekündigte Steigerung der Übertragungsnetzentgelte durch die Redispatch-Kosten zu verhindern, werden die Stromnetzentgelte aus den abgeschöpften Strommarkt-Zufallseinnahmen bezuschusst.“
Folgende Maßnahme wird hingegen nicht an Bedingungen geknüpft.
„Um die Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen angesichts der stark angestiegenen Energiepreise nicht zusätzlich zu belasten, wird die für den 1. Januar 2023 anstehende Erhöhung des CO2-Preises um fünf Euro pro Tonne im Brennstoffemissionshandel um ein Jahr auf den 1. Januar 2024 verschoben.“
Nicht ganz unwichtiger Nebeneffekt dabei: Die Verwertungsbedingungen der fossilen Erzeuger bleiben in 2023 genauso günstig wie in 2022. Gut für den Markt, wie er derzeit aufgestellt ist, aber ein Schlag ins Gesicht für alle, die tatsächlich eine schnelle Energiewende vorantreiben wollen.
Summa summarum ist dieses dritte Entlastungspaket nichts anderes als eine Packung Valium für’s Volk. Die Frage, wie lange diese Art Medikation noch hilft, sollten sich vor allem die politisch Verantwortlichen stellen. Wir würden eine kontinuierliche „Entlastungspaket-Vermeidungs-Politik“ deutlich effektiver und auch demokratiefreundlicher bewerten.
Putin ist schuld?
„Der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg auf die Ukraine sorgt weltweit für steigende Energie- und Nahrungsmittelpreise. Die damit verbundene Erhöhung der Lebenshaltungskosten wird für viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland zunehmend zu einer großen Belastung.“
So beginnt der 13-seitige Text zum dritten Entlastungspaket unserer Regierung. Wir stimmen diesem Satz unumwunden zu, allerdings nicht ohne zu ergänzen, dass die kapitalistische Produktionsweise, mit ihrem systembedingten Streben nach Maximalprofit, ursächlich für die heutige Lage ist. Die Kriegsverbrecher dieser Welt sind so nur die für alle sichtbare Spitze des Eisberges. Sie erledigen die Drecksarbeit bei der Durchsetzung von Macht- und Profitinteressen.
Ein nach ausschließlich marktwirtschaftlichen Regeln funktionierendes System wird immer wieder von Krisen geschüttelt. Krisen und Kriege sind ein fester Bestandteil solcher Systeme.
Die Fokussierung auf billiges russisches Gas war systembedingt folgerichtig. Die Vorgänger der Ampel-Regierung haben sie im Interesse ihrer Klientel vorangetrieben und die Ampel hat daraus so gut wie gar nichts gelernt.
Unsere Prognose für den/die kommenden Winter
Dem dritten Entlastungspaket das Etikett „Danke für nichts“ anzuheften, wäre sicherlich ungerecht. Andererseits wird es, selbst wenn die „Zufallsgewinne“ zufällig in merklicher Höhe abgeschöpft werden können, definitiv nicht reichen. Überdies ist mehr als fraglich, ob die beschlossenen Maßnahmen noch rechtzeitig greifen. Wir werden massenhaft private und betriebliche Insolvenzen sehen, verbunden mit einem weiteren, noch tieferen Abschwung als durch Corona verursacht. Wir sollten uns weiterhin darüber im Klaren sein, dass die Versorgungssicherheit angesichts der Marktlage noch stärker gefährdet ist als bisher. Temporäre lokale Stromabschaltungen sind zu befürchten, flächendeckende Blackouts möglich.
Schon jetzt versuchen die rechtsextremen Totengräber der Demokratie ihren Nutzen aus der Situation zu ziehen, indem sie einen „heißen Herbst“ proklamieren. Wir können nur hoffen, dass die Mehrheit der Bevölkerung da nicht mitmarschiert.
Es fehlt nur ein weiteres gravierendes negatives Ereignis und wir werden uns im Chaos wiederfinden.
Umbau des Energiesystems
Die Energiewirtschaft ist ein extrem wichtiger Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Daher darf sie nicht länger allein nach den angeblich unumstößlichen Kriterien eines Marktes organisiert werden, dem man eine Freiheit andichtet, von der er meilenweit entfernt ist. Große Marktteilnehmer nutzen ihre Vormachtstellung auf allen Märkten rücksichtslos aus, was im Energiesektor besonders fatale Folgen hat. Die Turbulenzen des „freien Marktes“ überfordern aktuell viele, wenn nicht die Mehrzahl der in Deutschland lebenden Menschen.
Die vor zwanzig Jahren eingeleitete Liberalisierung des Strommarktes ist eine Bankrotterklärung der öffentlichen Verwaltungen vor den Kräften eines ungezügelten, einzig auf Maximalprofit orientierten Gesellschaftsentwurf. Dieser Entwurf darf nicht länger von der Politik gestützt bzw. sogar gefördert werden.
Energie ist eben kein Produkt wie jedes andere. Niemand hat die Wahl auf Energie zu verzichten oder seinen Verbrauch extrem einzuschränken. Die Organisation ihrer Erzeugung, Verteilung und ihres Verbrauchs muss deshalb schnellstmöglich in staatliche Kontrolle zurückgeführt werden. Die Preisbildung hat sich an den tatsächlichen Grenzkosten zu orientieren und nicht an den feuchten Träumen der Manager großer Energiekonzerne. Die Grenzkosten zu senken gelingt am schnellsten durch eine Energiewende zu 100% Erneuerbaren, in die die gesamte Bevölkerung gerecht einbezogen wird.
Noch ist Zeit, aber die Zeit läuft uns davon.