Die wundersame Verdreifachung der Netzentgelte

Für die meisten Stromkunden werden die Netzentgelte – ein Teil des Strompreises – im kommenden Jahr steigen. Um die Kosten für Verbraucher und Wirtschaft zu drücken, schießt der Bund 13 Milliarden Euro zu.“

So lautet der Einführungstext eines Online-Beitrags der Wirtschaftsredaktion der ARD-Tagesschau vom 05.10.2022.

Die Bundesregierung wendet also Kostensteigerungen von „Verbrauchern und Wirtschaft“ ab. Wie schön. Wir haben trotzdem ein paar Fragen.

Wofür werden Netzentgelte gezahlt?

Netzentgelte sind legitimer Bestandteil der Stromrechnung. Schließlich müssen die Stromnetze ständig gewartet, modernisiert und in verschiedenen Bereichen auch ausgebaut werden. Näheres hierzu finden Sie bei Next-Kraftwerke. Es lohnt sich, diesen Artikel komplett zu lesen. Wer noch tiefer graben will, kann sich eine Agora-Studie aus dem Vorkrisenjahr 2019 zu Gemüte führen.

Anhand dieser beiden Quellen lassen sich zwei Dinge festhalten:

  1. Die Kalkulation der Netzentgelte durch die Netzbetreiber ist alles andere als transparent.
  2. Wir müssen grundsätzlich unterscheiden zwischen den Netznutzungsgebühren für Verteilnetze und Übertragungsnetze.

Dieser Text bezieht sich auf die Übertragungsnetze.

Gebührenvereinheitlichung…

Die vier Übertragungsnetzbetreiber, im Folgenden ÜNB, Tennet, Amprion, 50Hertz und TransnetBW arbeiten gemeinsam mit der Politik seit 2017 daran, die Netzentgelte für die Übertragungsnetze zu vereinheitlichen. Dieser Prozess ist nunmehr beendet. Ab 2023 soll bundesweit ein Preis von 3,12 Cent pro Kilowattstunde für die Nutzung der Übertragungsnetze für Bürger sowie kleine und mittlere Unternehmen gelten. Die Sonderregelungen für die Großindustrie bleiben unangetastet.

3,12 ct/kWh statt bis dato im Bundesdurchschnitt 3,08 ct/kWh – das ist in Zeiten hoher Inflation ein bemerkenswert geringer Preisanstieg.

… die Preisexplosion bei den Netzentgelten…

Wo also ist der Haken? Im ARD-Bericht heißt es weiter:

Wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet, hätten sich die Kosten für die Übertragungsnetze von fünf Milliarden auf 18 Milliarden Euro mehr als verdreifacht.“

Wenn Reuters das sagt, muss es wohl stimmen. Wir haben die englischsprachige Reuters-Originalquelle nachverfolgt, in der Hoffnung mehr über die genauen Gründe dieser immensen Kostensteigerung zu erfahren. Dabei stellte sich heraus, dass der ARD-Bericht nicht viel mehr ist als die platte Übersetzung des Reuters-Statements, die mit ein paar weiteren scheinheiligen Textfragmenten garniert wurde. Die Originalquelle für Reuters und die ARD ist Wirtschaftsminister Habeck persönlich, dessen Kernaussage zum Thema Netzentgelte lautet:

Wir sorgen jetzt dafür, dass diese Kostensteigerungen aufgefangen werden und verhindern damit eine zusätzliche Belastung für Industriebetriebe, Mittelstand und Verbraucherinnen und Verbraucher. Dazu werden wir knapp 13 Mrd. Euro einsetzen, um die Kosten zu dämpfen. Das geschieht im Zusammenhang mit der Strompreisbremse und dem Abwehrschirm. Zur Zwischenfinanzierung greifen wir auf die Überschüsse auf das EEG-Konto zu“, erklärte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne).“

Sarkasmus on:

Bravo, Herr Habeck, und vielen Dank für die außerordentliche Fürsorge, die Sie auch dem Mittelstand und den Verbraucher*innen angedeihen lassen. Dass Sie bei der Gelegenheit gleich das EEG-Konto plündern, sei Ihnen verziehen. Wir haben uns schon die ganze Zeit gefragt, wann diese Reservepatrone aus dem Wumms-Magazin verschossen wird. Wie viel Munition ist eigentlich noch übrig? Fragen Sie mal den Herrn Lindner, aber erst nachdem der seine Reprofilierung innerhalb der Ampel-Koalition abgeschlossen hat. Im Moment ist er wohl nur schwer ansprechbar, weil er sich im Zuge der Hervorhebung der Wichtigkeit der FDP um die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke kümmern muss.

Sarkasmus off:

…und unsere Irritationen

Die wichtigste aller möglichen Fragen ist die nach einer Begründung für die Kostensteigerung. U.a. Spiegel Online (dort unbedingt auch die Kommentare lesen) hat sich der Sache angenommen und liefert zumindest ein paar Ansätze:

Hintergrund der gestiegenen Kosten sind die großen Ungleichgewichte im europäischen Stromnetz, etwa wegen des Ausfalls vieler französischer Atomkraftwerke. Kosten des Reserveeinsatzes von Kohlemeilern schlagen bei den Entgelten ebenfalls durch. Daher verursacht die Stabilisierung des Netzes deutlich höhere Kosten als in der Vergangenheit.“

Mag sein, dürfte aber kaum als Ausrede für den Faktor 18/5=3,6 reichen. Wir können das behaupten, weil z.B. T-Online ganz andere Gründe nennt:

Ihre Berechnungen begründeten die vier Unternehmen (Anmerkung: die ÜNB) mit absehbar noch zunehmenden Kosten: „Die Hauptursache liegt bei den erheblichen Preissteigerungen auf den Brennstoff- und Strommärkten, die vor allem auf Russlands Krieg gegen die Ukraine zurückzuführen sind.““

Der Rechtfertigungsdruck der ÜNB scheint immerhin recht groß zu sein, wenn man verschiedene Ursachen für ein mehr als zweifelhaftes Geschäftsgebaren benennen muss. Aber ernsthaft – was haben Preissteigerungen auf den Brennstoffmärkten mit den Netzen zu tun? Uns ist bislang nicht aufgefallen, dass Überlandleitungen golden schimmern, seit die Gaspreise durch die Decke gegangen sind. Wir verbuchen die grotesken Forderungen der ÜNB einfach mal unter dem Begriff Gier unter Ausnutzung ihrer Monopolstellung, geben ihnen aber Gelegenheit, sich von diesem Vorwurf zu befreien, indem sie Zahlen vorlegen, die den 13 Mrd. Gebührensprung uns Bürgern plausibel erklären. Wahlweise kann die BNetzA diesen Job übernehmen. Eine entsprechende Anfrage haben wir bereits an die Behörde gestellt.

Unter dem Deckmantel, Bürger und Wirtschaft zu entlasten, wirft unser Wirtschaftsminister genau diesen Betrag den ÜNB in den Rachen.

Herr Habeck: Einer unserer Autoren ist selbständiger ITler. Seine internen Kosten haben sich laut eigenen Aussagen im letzten Jahr mehr als verdoppelt. Wohin muss er sich wenden, um dafür eine Kompensation aus der Staatskasse zu erhalten?

Das Geld kommt, wie schon erwähnt,vom EEG-Konto. Dies ist eine Zweckentfremdung, weil diese Mittel eigentlich dafür da sein sollten, den Ausbau der Erneuerbaren zu fördern, der auch unter der Ägide eines grünen Wirtschaftsministers faktisch ebenso schleppend voran geht wie bei seinen Vorgängern. Und das auf dem EEG-Konto liegende Geld wurde letztendlich von vornehmlich kleinen Stromkunden bezahlt. OK – das Geld ist ja nicht weg, sondern nur woanders; bei den ÜNB und ihren Aktionären. Ein klassischer und hier besonders dreister Fall der Umverteilung von unten nach oben.

Nur am Rande: Die ÜNB behalten sich weitere Gebührenerhöhungen vor und auch die Netzentgelte der Verteilnetzbetreiber werden in naher Zukunft steigen. Wir können nur hoffen, dass diese 872 Unternehmen nicht dem „guten Beispiel“ der ÜNB folgen und sich gegenüber Habeck ähnlich positionieren. Es liegen immerhin noch 5 Mrd. auf dem EEG-Konto, die auf dankbare Empfänger warten.

Kurzweilige Elementarmathematik – die Jahreseinnahmen der ÜNB

Diese lassen sich recht einfach unter Nutzung der Grundrechenarten ermitteln. Unser Stromverbrauch liegt bei ca. 600 TWh. Daran sind private Haushalte + Gewerbe, Handel und Dienstleistungen (GHD) zu ca. 52% beteiligt. Diese beiden Sektoren haben demnach einen Bedarf von 312 TWh. 312 TWh sind 312*10^9 kWh. Bei einem Preis von 3,12 ct/kWh erhalten wir einen Ertrag von 9,7 Mrd. Euro – nur für diese beiden Sektoren. Die Industrie behauptet, die Netzgebühren der ÜNB würden mit bis zu 30% in ihren Strompreis eingehen. Da weder belastbare Zahlen zu diesem Prozentsatz noch zum Preis selbst ermittelbar sind, schätzen wird diesen Ertrag sehr konservativ auf 4 Mrd. Euro. In 2022 kassieren die ÜNB demnach rund 14 Mrd. Euro. In den Vorjahren, in denen die ÜNB selbst nur Kosten von 5 Mrd. veranschlagten, sieht die Rechnung ähnlich aus. Von Margen um die 60% können kleine und mittelständische Unternehmen nur träumen. Sie sind schließlich dafür da, die Gewinne der „systemrelevanten“ Großkonzerne zu erwirtschaften.

Andere Politik und Umdenken sind dringend notwendig

Die Politik hilft tatkräftig beim Umverteilen. Niemand sollte mehr behaupten, die Grünen wären links-grün versifft. Links und grün ist die Baerbock/Habeck-Truppe genauso wenig wie die Sozialdemokraten sozial, zumindest, was deren führende Köpfe angeht.

Und nein, die blaubraunen Kameraden sind dazu alles andere als eine Alternative, auch wenn sie sich als solche aufplustern und deshalb die Gefahr besteht, dass sie diesen Text für sich vereinnahmen.

Eine echte Alternative läge darin, wenn die Menschen in diesem Lande endlich wieder den Willen und den Mut aufbringen würden, selbst über das nachzudenken, was um sie herum geschieht. Dazu gehört auch die kritische Auseinandersetzung mit der Berichterstattung über Energiepreise im Allgemeinen und den hier geschilderten Beutezug der ÜNB im Besonderen. Letzterer wird nur am Rande erwähnt, obwohl 13 Mrd. Euro keine vernachlässigbare Summe sind. Und vor allem wird er uns dreist als Maßnahme zur Verhinderung zusätzlicher finanzieller Belastungen für Bürger und Wirtschaft zelebriert. Dass sich Habeck dabei auf die gleiche Sorte Wirtschaft fokussiert wie seine Vorgänger, hat er mit diesem Schachzug eindrucksvoll bewiesen.

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